Dörverden: Ein Dorf wird inventarisiert
2010 begann in Dörverden bei Bremen
die Totalinventarisation aller
Gebäude. IgB-Mitglied und Hausforscher Heinz Riepshoff hat das Projekt
angestoßen und gab 2011 ein Interview über die außergwöhnliche Idee, ein
ganzes Dorf zu inventarisieren.
Wie kamst Du dazu, ein ganzes Dorf zu einer Inventarisation anzustiften?
Ich kam dazu wie die
Jungfrau zum Kinde. In Dörverden herrscht aufgrund des Ehmken
Hoff Projekts (siehe unten) Aufbruchstimmung. In diesem Zusammenhang
habe ich einigen Leuten dort erzählt, dass es doch toll wäre, wenn
jemand vor 100 Jahren durchs Dorf gegangen wäre, sämtliche Häuser
durchfotografiert hätte und wir diese Bilder heute in Händen hielten.
Hätte wohlgemerkt, weil das natürlich niemand gemacht hat. Die meisten
sagten, ja, das wäre toll! Und ich sagte, das werden die Leute in 50
Jahren auch sagen. Deswegen sollten wir uns heute sämtliche Häuser
anschauen, bewerten, wie alt sie sind, welche Geschichte sie haben. Das
fanden einige Dörverdener so toll, dass sich spontan 6, 7 Leute meldeten
und gesagt haben: Da machen wir mit. Geleitet wird die AG von einem
Dörverdener, ich bleibe dabei etwas im Hintergrund.
Wie läuft das Projekt genau ab?
Wir machen seit einem Jahr alle 4
Wochen eine Begehung der Häuser und Höfe in Dörverden. In unserer Gruppe
ist unter anderem der ehrenamtliche Archivar. Er geht eine Woche vorher
zu den Häusern, die wir beim nächsten Mal aufsuchen werden, und steckt
ihnen eine schriftliche Ankündigung, dass wir kommen, in den
Briefkasten. Darin bittet er, Unterlagen, die den Hof betreffen, am
Besuchstag parat zu haben. Wenn wir dann kommen, warten die Leute schon
auf uns. Meist steht Oma in der Tür und empfängt uns mit den Unterlagen.
Ab und zu sind auch jüngere Hofbewohner mit dabei und sind überrascht,
dass ein paar "Verrückte" auf die Idee gekommen sind, sich um so etwas
zu kümmern.
Wir gehen samstags um neun Uhr los und arbeiten bis
mittags um zwölf Uhr. In der Regel schaffen wir zehn bis 13 Anwesen. Wir
gehen auf den Hof, und sehen ein großes Bauernhaus mit mehreren
Nebengebäuden. Der Leiter der Gruppe schreibt Protokoll, während ich
beschreibe, was wir sehen, zum Beispiel: "Fachwerkhaus, Zweiständer". Am
Giebel sieht man meist schon, in welchem Jahr das Haus gebaut wurde.
Derweil gehen zwei mit einem langen Bandmaß herum und messen Länge mal
Breite der Häuser durch. Alle Gebäude dort, Scheunen, Ställe,
Schweinestall, Backhaus, Speicher, werden durchgemessen. Wir haben uns
von der Gemeinde einen Grundstücksplan besorgt, dort werden die Maße
eingetragen. Ich fotografiere wie ein Weltmeister. Bei einem Hof mit
mehreren Gebäuden kommen meist um die 100 Fotos zusammen. Wir
fotografieren außen und auch innen, in der Diele, im Flur, im
Kammerfach.
Die Geschichte der einzelnen Häuser, auch die
Veränderungen an den Häusern, wird kurz aufgeschrieben. Ich diktiere,
weil ich schneller als die anderen sehe, was ich vor mir habe. Von jedem
Hof wird später im PC eine Akte angelegt: Baudaten, Baugeschichte,
Brandkassennummer, Eigentümer, der erste Eigentümer, der den Hof gebaut
hat. So gehen wir Straße für Straße, Haus für Haus, durch den ganzen
Ort. Ende 2011 werden wir den Hauptort Dörverden fertig haben.
Allerdings gibt es jetzt schon Interesse, alle anderen Ortsteil
anschließend zu inventarisieren. Ich will aber erst mal dieses unter
Dach und Fach haben. Es kamen sogar Anfragen aus weiteren Dörfern in der
Nähe, aber die kann ich höchstens beraten. Auch meine Zeit ist
begrenzt.
Wer arbeitet in der Gruppe mit?
In unserer Arbeitsgruppe sind der schon
erwähnte ehrenamtliche Archivar, der früher Standesbeamter war und alle
Leute im Ort kennt. Dann ein gelernter Maurer, der einen Blick für alte
Gebäude hat. Er kann sehr schön an den Gebäuden ablesen, wo
Veränderungen am Mauerwerk geschehen sind. Ein weiterer Kollege ist in
einem der beiden wieder aufgebauten Häuser (Kochs Hof) großgeworden und
kennt sämtliche Höfe und Menschen. Er weiß sogar die Brandkassennummer
jedes einzelnen Hauses aus dem Kopf, ist sozusagen ein wandelndes
Lexikon. Dann haben wir noch einen Elektromeister mit einem besonderen
Blick für Elektroanlagen auf den Höfen. Er kann uns zum Beispiel sagen,
schau mal, da hängt noch ein altes Elektrogerät mit der und der
Bedeutung an der Wand. Er fotografiert auch mit mir zusammen. Dann
arbeiten noch zwei Frauen mit. Die eine fährt mit ihrem Rolator mit und
findet das Ganze total spannend. Unsere zweite Frau hat mir gesagt, dass
sie die Welt völlig anders sieht, seit sie mit uns die Begehungen
macht. Sie achtet jetzt auf Mauerwerk, auf die Form der Häuser, auf
Fachwerk und Details.
Was bringt die Totalinventarisation den Menschen in Dörverden?
Wenn in einer Gemeinde wie Dörverden
mit viel Geld zwei Bauernhäuser (Ehmken Hoff) aufgebaut werden und sich
alle Aktivitäten auf diese zwei Häuser konzentrieren, geht der Blick für
die vielen anderen Gebäude, die im Ort eine geschichtliche Bedeutung
haben, leicht verloren. Mit unserem Projekt versuchen wir das Gegenteil
zu erreichen. Wir lenken den Blick auf das Alltägliche, Allgemeine im
Dorf, und der Effekt ist erstaunlich. Die Leute, die mitgehen, sagen,
dass sie ihr Dorf noch nie so gesehen haben. Mein Ort mit völlig neuen
Augen.
Die Begehungen verändern aber auch die Leute, die
wir aufsuchen. Sie haben noch nie vorher erfahren, dass irgendjemand
ihren Hof interessant fand. Plötzlich steht da eine Gruppe vor der Tür
und findet alles interessant. Die Leute bekommen ein völlig neues
Bewusstsein über ihre eigene Dorfgeschichte und ihr eigenes Gebäude, das
dort steht. Das wollte ich zunächst erreichen, und es scheint auch zu
funktionieren.
Der Zustand der Gemeinde Dörverden im Jahre 2010
lässt sich später im entstehenden Archiv ablesen. Mit dieser
Dorfgeschichte kann auch in 20 oder 30 Jahren Kindern erzählt werden,
wie es hier aussah, selbst wenn dann einige Häuser fehlen. Die Leute
gehen dadurch sorgsamer mit ihrem Eigentum um. Werden Veränderungen
vorgenommen, kann man später noch zeigen und erklären, wie es früher
ausgesehen hat. Zum Beispiel wusste keiner, dass jedes zweite Gebäude in
Dörverden ein Schweinestall war. Alle wussten, dass hier früher viele
Schweine gemästet wurden, aber dass noch so viele Ställe heute noch
stehen, wusste niemand. Die meisten davon stehen leer, in einigen sind
Fahrräder oder Hühner, in sehr wenigen noch ein paar Schweine. Jetzt
wissen die Eigentümer erst einmal, was sie genau da leer stehen haben.
Wir machen überhaupt keine Vorschläge zum Umgang mit
den Häusern. Wir versuchen, völlig wertfrei Zustände festzustellen. Der
nächste Schrift, der kommt, ohne dass ich Einfluss darauf nehmen muss,
ist die Frage, was machen wir eigentlich mit den ganzen Gebäuden? Denn
kommt die Idee, kann man ein Haus wieder zurückbauen oder die leer
stehenden Schweineställe anderns nutzen. Das muss langsam in den Köpfen
wachsen.
(Anm. Anfang des 19. Jahrhunders
explodierte die Bevölkerung im Ruhrgebiet aufgrund der
Industrialisierung. Der Nahrungsmittelbedarf stieg immens, parallel
brachte der Ausbau der Eisenbahn neue Transportmöglichkeiten. So kam es
zu einem Schweineboom in der Region Hoya. Nahezu jeder Hof mästete
Schweine, die lebendig per Eisenbahn ins Ruhrgebiet transportiert und
dort in riesigen Schlachthöfen geschlachtet wurden.)
Was passiert mit all Euren Daten nach Abschluss des Projektes?
Sämtliche erhobenen Daten werden später
im Computer in Akten zusammengefasst zu finden sein. Zugeordnet werden
alle historischen Fotos, auch von Möbeln, die die Leute uns gezeigt
haben. Wir werden sie einscannen. Es gibt ferner jemand im Dorf, der
eine Website hat. Dort finden sich alte Postkarten von Dörverden, die er
schon seit Jahren sammelt. Dieses Material wird ebenfalls hinzugefügt.
Nach gut 2 Jahren Arbeit wird eine Komplettinventarisation von Dörverden
in der Datenbank zur Verfügung stehen. Häuser aus den 70er Jahren
nehmen wir nicht auf, aber einen gut erhaltenen Nachkriegsbau
inventarisieren wir mit. Die Datenbank wird öffentlich zugänglich sein.
Wenn wir mit der Inventarisation fertig sind,
entsteht wahrscheinlich ein Buch. So wird über das Mittel der Begehung
eine Bau- und Dorfgeschichte geschrieben. Das ist anders als die übliche
Dorfchronik. Da wird in der Regel Geschichte völlig losgelöst von den
Gebäuden im Ort aufgeschrieben. Gebäude und Baugeschichte werden
eigentlich nie erklärt.
Gab es Anekdoten und Besonderheiten?
Meist werden wir sehr freundlich
aufgenommen, aber es gibt auch Ausnahmen. Eine alte Frau war uns schon
als nicht kooperativ angekündigt worden. Als wir bei ihr klingelten,
schimpfte sie sofort los, dass sie "so etwas Beklopptes noch nie gehört
hätte, durch die Gemeinde zu ziehen und alte Häuser aufzumessen, die
sowieso nichts mehr wert sind. Ob wir nichts Bessesres zu tun hätten?"
Ich habe versucht, beruhigend auf sie einzuwirken. Nach fünf Minuten
wollte sie dann doch wissen, wozu das alles gut sein soll und hat uns
sogar erlaubt, den Spruchbalken direkt über ihr zu fotografieren.
Reingelassen hat sie uns aber nicht.
Dann haben wir ein Gebäude aus der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts gefunden. Das Wohnhaus steht leer, der Besitzer
wohnt in Hannover. Hinter diesem Gebäude steht eine Fachwerkscheune. Wir
haben uns die Scheune angeschaut und herausgefunden, dass das gar keine
Scheune, sondern ein früheres Bauernhaus ist. Die Geschichte dazu: Ein
jüdischer Viehhändler hat den Hof Mitte des 19. Jahrhunderts gekauft und
das vordere Wohnhaus neu gebaut. Das alte Hallenhaus hat er von vorne
bis hinten zum Viehstall ausgebaut, er war ja Viehhändler. Doch in
Wirklichkeit ist es ein gut erhaltenes Hallenhaus, denn die Ständer und
Luchten sind noch vorhanden.
Vor kurzem wurde das Projekt in einem Werkstattgespräch der Öffentlichkeit vorgestellt. Wie war die Resonanz?
Das ganze Ehmken Hoff Projekt bringt
einen ungeheuren Motivationsschub für die Wiederbelebung des Ortes. Die
Begehung unterstreicht diesen Schub noch. Bei meinem Vortrag über den
Stand der Dinge war die "Bude gerammelt voll", um die 100 Leute aller
Altersgruppen kamen. Ich habe die Dorfgeschichte mit einer
PowerPoint-Präsentation sortiert gezeigt. Es gab alte Fachwerkhöfe, die
jüngere Geschichte, Baugeschichte, Möbel und Inventar. Einige Folien
zeigten ältere und jüngere Schränke oder Truhen oder Stühle. Es gab
beispielsweise 1942 bis 1944 einen Tischler, der für fast jeden Hof eine
Sitztruhe mit Intarsienarbeiten, die frühere Höfe abbilden, gefertigt
hat. Davon gibt es noch ein Dutzend. Dann habe ich Schützenscheiben
fotografiert. Mit all diesen Bildern will ich den Anwesenden den Blick
für alles Kulturelle, was in diesem Dorf zu sehen ist, öffnen.
Warum bist Du so von alter Bausubstanz fasziniert?
Ich kam vor zwei Wochen ins Kreismuseum
in Syke. Dieses alte Bauernhaus hat mittendrin noch eine richtige
Feuerstelle, auf der offenes Feuer gemacht werden kann. Der Rauch zieht
per Ventilator, den man gar nicht sieht, nach oben ab. Es sieht dort aus
wie vor 200 Jahren. Auf dieser Diele veranstalteten die
Museumspädagoginnen gerade ein Projekt mit einer Kindergartengruppe. Sie
trugen historische Leinenkleidung und saßen mit den Kindern um das
offene Herdfeuer herum. Die Kinder durften an diesem offenen Feuer mit
Waffeleisen Waffeln backen. Du konntest an den Augen dieser Kinder
sehen, wie unglaublich aufregend und spannend sie das fanden.
Das erinnert mich daran, dass ich als zehnjähriger
Pfadfinder im selben Haus am Feuer gesessen habe. Es wurden Geschichten
erzählt, wir durften Holz nachlegen. Das ist möglicherweise neben
einigem anderen ein Schlüsselmoment gewesen, der in meinem Kopf für
immer hängen geblieben ist.
Ich finde es unglaublich faszinierend, mich mit
alten Häusern zu beschäftigen. Es gibt noch einen zweiten Grund: Ich war
vor 40 Jahren als Entwicklungshelfer in Ghana. Deswegen habe ich eine
gewisse Vorstellung davon, was es heißt, eine Expedition in den Urwald
zu machen. Ein altes Bauernhaus, in das noch nie jemand hineingeschaut
hat, zu untersuchen, ist so ähnlich, wie eine Expedition im Urwald zu
unternehmen. Das ist eine Zeitreise. Und was wir im Moment machen, ist
eine Zeitreise durch Dörverden. Ich versuche, die Leute mit meinem
Enthusiasmus anzustecken, und irgenwie scheint es mir zu gelingen.
Man macht sich ja Vorstellung, wie die Leute früher
gelebt haben. Meist sind sie von irgendwelchen Klischees geprägt. Ich
versuche, die Klischees mit harten Fakten, die in den Bauernhäusern
auftauchen, zu ersetzen. Dadurch werden sie spannender, weil man nicht
mehr fantasieren muss. Man weiß dann, wie die Leute gelebt haben, wie es
in dem Haus ausgesehen hat. Wie ein Großbauer oder ein kleiner Häusling
gelebt hat. Vor kurzem konnte ich in Dörverden nachweisen, dass ein
Haus, das alle für einen Stall gehalten haben, in Wirklichkeit ein
kleines Häuslingshaus war. Ich habe die offene Feuerstelle ebenerdig im
Boden gefunden, an der die Leute saßen und sich gewärmt haben. So wie
Winnetou am offenen Feuer saß, so saßen die Bauern hier in der Region
teilweise bis ins 20. Jahrhundert hier in ihrer Diele und haben am
offenen Herdfeuer gekocht.
Das Interview führte Michaela Töpfer (†).
Heinz Riepshoff:
Seit Mitte der 1970er-Jahre ist Heinz Riepshoff Mitglied in der IgB. Zusammen mit Bernd Kunze betreibt er die Außenstelle Landkreis Verden und Grafschaft Hoya. In den 1980er und 1990er-Jahren war er Geschäftsführer der IgB und ist seitdem IgB-Landesbeauftragter für Niedersachsen. Auf seine Initiative hin wurde das Bauernhausarchiv der Grafschaften Hoya und Diepholz als Einrichtung des Kreismuseums Syke gegründet, das Heinz Riepshoff seither leitet.