Dazu kommt, dass Niederdeutsche Hallenhäuser über einen relativ langen Zeitraum gebaut wurden. Die heute noch existierenden Gebäude reichen vom ausgehenden Mittelalter bis in die Zeit der Industrialisierung hinein. Sie konnten äußerst stattliche Dimensionen annehmen sowie als Häuslingshäuser oder Altenteiler nur die Größe von kleinen Wochenendhäuser haben.
Seit Jahrhunderten prägen weit verstreut gebaute Hallenhäuser die norddeutsche Landschaft. Obwohl Baudetails in den einzelnen Regionen variieren, vereint der Haustyp charakteristische Elemente: Wesentlich ist das große, oft mit Inschriften gestaltete Dielentor an der Giebelfront, das den Wirtschaftsteil des Hauses als Schauseite bestimmt. Die äußeren Fachwerkwände werden vom weit hinuntergezogenen Dach aus Stroh oder Reet überfangen. Konstruktiv unterscheidet man bei Hallenhäusern Zwei-, Drei- oder Vierständerbauten – nach der Anzahl der dachtragenden Ständerreihen. Die jeweilige Konstruktionsweise lässt sich an ihrer äußeren Kubatur erkennen. Zweiständerbauten haben zwei tragende Ständerreihen im Innern, zu beiden Seiten der Diele, während die niedrigen äußeren Wände entfernt und ausgetauscht werden können, weil das innere Gerüst das hohe Dach und die Last der dort gelagerten Ernte trägt.
Der Funktion nach ist das Niederdeutsche Hallenhaus ein „Einhaus“, das das bäuerliche Leben und Wirtschaften von Menschen und Vieh unter einem Dach vereint. In der Mitte des dreischiffigen Gebäudes erstreckt sich die freie, hallenartige Diele. Links und rechts liegen die Seitenschiffe (auch Kübbungen oder Abseiten) zur Aufstallung des Viehs, während die Ernte auf dem Dachboden gelagert wurde.
Die Diele geht in das Flett, den Wohn- und Hauswirtschaftsraum über, in dessen Zentrum sich der Herd mit dem offenen Feuer befand. Links und rechts schließen sich jeweils Nischen (Luchten) an, in denen sich auf der einen Seite der Esstisch für Familie und Hofgesinde befand, während auf der anderen Seite im „Waschort“ ein Spülstein stand, an dem abgewaschen wurde. Hinter der „Herdwand“, der Rückwand des Fletts, liegen Kammern und Stuben, die als Kammerfach bezeichnet werden.
Heinrich Stiewe: „In großen Hütten, die man Häuser nennt…“. Das Niederdeutsche Hallenhaus ist Bauernhaus des Jahres 2023.
Heinz Riepshoff: Das Bauernhaus vom 16. Jahrhundert bis 1955 in den Grafschaften Hoya und Diepholz, IgB-Verlag 2016.
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Die Interessengemeinschaft Bauernhaus und das Niederdeutsche Hallenhaus sind von Beginn an miteinander verbunden, ist doch der Bautyp selbst ein Auslöser für die Entstehung unseres Vereins im Herzen des Hallenhausgebietes. 1973 fanden sich die Gründungsmitglieder der IgB in Kirchseelte bei Bremen in der ehemaligen Grafschaft Hoya zusammen, weil sie in der Gesellschaft ein Verständnis dafür schaffen wollten, dass die historischen Bauernhäuser als landschaftsprägende Bauten ein wertvolles Kulturgut sind, das erhalten werden muss. Sie begannen, aus der landwirtschaftlichen Nutzung gefallene, leerstehende und vom Verfall bedrohte Bauernhäuser zu erwerben, mit gemeinsamer Kraft zu renovieren und andere Menschen für ihre Ideen zu begeistern. Dadurch wurde das Niederdeutsche Hallenhaus auch zum Zeichen der IgB, genauso wie die Region, in der unser heute deutschlandweit aktiver Verein seine Wurzeln hat: Das Haussymbol im IgB-Logo setzt sich zusammen aus der Silhouette eines Niederdeutschen Hallenhauses, das von einem Wappensymbol, den Bärenklauen der Grafen von Hoya, umfangen wird, wobei die nach außen gekehrten Bärentatzen gleichzeitig an die Windbretter am Hallenhaus-Giebel erinnern.
Heute geht man davon aus, dass sich die Niederdeutschen
Hallenhäuser aus Pfostenbauten entwickelt haben. Die ältesten
erhaltenen Exemplare in Deutschland stammen aus der Mitte des 15.
Jahrhunderts, zum Beispiel im Artland. Ältere Beispiele aus dem 13.
und 14. Jahrhundert wurden in den Niederlanden entdeckt. Ihre Gestalt
und Raumgliederung entspricht schon weitgehend den in größerer Zahl
bewahrten Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
In den Jahrzehnten zwischen 1550 und 1600 erlebte das Niederdeutsche Hallenhaus seine erste Blütezeit, eine zweite folgte von ca. 1750 bis ins frühe 19. Jahrhundert. Viele der in der Regel stroh- und reetgedeckten Bauten fielen Dorfbränden zum Opfer, bis im späten 19. Jahrhundert die Brandsicherheit der Häuser durch massive Backstein- oder Bruchsteinaußenwände und Ziegeldächer verbessert wurde. Auch Schornsteine wurden eingebaut, die den Qualm des Herdfeuers möglichst sicher nach draußen leiten sollten. Zugleich kam es zu einer Trennung zwischen Wohnteil mit Flett und Kammerfach und der Diele mit den Stallungen. Die große Halle bekam nun eine „Scherwand“ (Trennwand) mit großen verglasten Türen und Fenstern. Das frühere Flett mit der offenen Herdstelle wurde nun in Hausflur und Küche aufgeteilt – mit geschlossenem Herd und Rauchabzug zum Schornstein.
Durch den wirtschaftlichen Aufschwung ab der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg verschwanden insbesondere in
der damaligen Grafschaft Hoya, im Prinzip aber im gesamten
norddeutschen Raum, etwa zwei Drittel der älteren Niederdeutschen
Hallenhäuser. Sie wurden durch Backsteinbauten ersetzt, die
konstruktiv zum Teil selbst noch Hallenhäuser waren. Ab 1900 kamen
nach städtischem Vorbild völlig frei stehende Wohnhäuser hinzu,
denen links und rechts Scheunen und Ställe zur Seite gestellt wurden
– jetzt wurden bäuerliche Hofanlagen gebaut, die wie Gutshöfe
aussahen. Als neues Phänomen im norddeutschen Raum entstanden seit
dem 19. Jahrhundert zahlreiche Querdielenhäuser mit dem Dielentor an
der Traufseite, deren Diele quer zum Dachfirst verlief, diese wurden
vor allem von kleineren Nebenerwerbsbauern bewohnt. Nach dem Zweiten
Weltkrieg kam es weiter zur Beeinträchtigung der Originalsubstanz
vieler Hallenhäuser, als im Zuge des Wirtschaftswunders die
Modernisierung voranschritt, alte Häuser abgerissen oder grundlegend
umgebaut wurden und neue Baumaterialien zum Einsatz kamen.
Mit Sorge beobachten wir, dass in den letzten 50 Jahren der Bestand an Hallenhäusern und Nebengebäuden rapide zurückgegangen ist – und weiter abnimmt. Während viele Bauernhäuser in der Nähe größerer Städte inzwischen erfreulicherweise als begehrte Immobilien für Althausliebhaber (darunter viele IgB-Mitglieder) gelten und regelrecht vom Markt weggekauft werden, steht es abseits der Zentren schlecht um die älteren Bauten, die zunehmend Leerstand und Verfall ausgesetzt sind. Niederdeutsche Hallenhäuser und Nebengebäude, sogenannte Resthöfe, sind hier oft preisgünstig zu erwerben. Für sie müssten sich interessierte Menschen finden, die gute und nachhaltige Nutzungsideen haben. Mit dem Bauernhaus des Jahres 2023 wollen wir vor allem diesen Objekte mehr Aufmerksamkeit verschaffen und für ihre Erhaltung werben, damit auch sie gerettet werden können und das weit verstreut im ländlichen Raum liegende kulturelle Erbe langfristig nicht verloren geht.
Julia Ricker