Als wir uns im Jahr 2020 für den Kauf eines 200-jährigen denkmalgeschützten Hofes in der Nordpfalz entschieden hatten, war die Verwunderung im Familien- und Freundeskreis groß: das Dach undicht, ein Nebengebäude stark einsturzgefährdet und am Scheunentor deutliche Risse in der Traufwand, die bereits auf den ersten Blick nichts Gutes erahnen lassen. Elektro, Heizung, Sanitär sind quasi nicht vorhanden, durch die teilweise noch im Original erhaltenen Fenster pfeift der Wind und der ehemals hübsche Laubengang ist heute aufgrund der massiven Schäden nicht mehr zu betreten. „Wieso um alles in der Welt kauft ihr dieses Haus? Das ist doch völlig heruntergekommen.“, fragt mein Vater. „Das kann man nur noch abreißen“, meint mein Bruder, der ein Abrissunternehmen betreibt und: „Wie wollt ihr das schaffen mit euren drei Kindern, die können ja schließlich nicht mit auf die Baustelle …“ so die anfängliche Meinung meiner Mutter.
Aber warum eigentlich nicht? Warum sollen Kinder nicht miterleben dürfen, wie ein Haus gebaut oder in unserem Fall saniert wird?
Die Geschichte, wie es zum Kauf dieser Immobilie kam, beginnt bereits viele Jahre zuvor. Schon lange bevor mein Mann und ich Kinder hatten, wollten wir gerne ein altes Haus kaufen – am liebsten ein Fachwerkhaus, und wenn möglich im unsanierten Zustand, damit wir miterleben, können wie es zu neuem Leben erwacht. Aber eine solche Immobilie ist in unserer Gegend kaum zu finden. Das Angebot ist gering und wenn sich von Zeit zu Zeit wirklich jemand von einem solchen Objekt trennt, dann wird es zu horrenden Preisen verkauft. Der Vernunft halber hatten wir uns also zunächst für einen praktischen Neubau entschieden – damit unsere kleine Tochter Platz zum Spielen bekommt und weil wir unsere Heimat nicht verlassen wollten!
Der Wunsch nach einem Altbau lies sich damit aber erwartungsgemäß nicht befriedigen, und so haben wir die Augen offen gehalten nach Chancen, die sich für uns bieten können. Klar, die Bedingungen waren nun nicht weniger schwer geworden, schließlich mussten wir fortan die Kosten des Neubaus tragen, wodurch der Spielraum für einen Altbau enorm geschmälert wurde. Unseren Wunsch aufgeben wollten wir aber dennoch nicht, und so haben wir uns für die einzige Möglichkeit entschieden, die für uns noch erreichbar war: ein „Schnäppchenhaus“ im schlechten Zustand, fernab der großen Städte, mit viel Eigenleistung am Wochenende und sehr viel Geduld bis zum Einzug! Mit diesen Randbedingungen haben wir uns also auf die Suche nach unserem Traumhaus begeben und sind 2020 nach fast 10-jähriger Suche und mittlerweile drei Kindern endlich fündig geworden.
Unser Haus: Baujahr 1821, ein Quereinhaus mit großem Walnussbaum im vorderen Hof, welcher laut Denkmalbericht für die Gegend wohl typisch war - einst ein altes Weingut mit landwirtschaftlicher Nutzung. Die Außenwände sind aus Bruchstein gemauert, die Innenwände aus Fachwerk mit Bruchstein-Ausfachung. Der Dachstuhl aus Eiche ist noch im Original erhalten, ebenso das Zahnschnitt-Muster am Trauf-Gesims. Dazu die alten Fenster, Türen und Dielen - an diesem Haus wurde mit wenigen Ausnahmen in seiner 200-jähringen Geschichte quasi nichts verändert! Es wirkt wie ein Museum, welches nicht als solches benannt ist, und ist eines von nur zwei Denkmalen im Dorf. Wäre es nach dem Wunsch der Gemeinde gegangen, so würden an dieser Stelle heute zwei Neubauten stehen …
Zum Baubeginn im Herbst 2020 sind die Kinder zwei, sechs und neun Jahre alt und weder sie noch wir wissen zu diesem Zeitpunkt, was uns erwarten wird. Klar ist, dass wir so viele Arbeiten wie möglich selbst erledigen wollen bzw. müssen – zum einen um die Kosten gering zu halten und zum anderen, weil es ein schönes Gefühl erzeugt, alten Dingen wieder ein Gesicht zu geben. Die ersten Monate verbringen wir damit, uns einen Überblick über die Lage zu verschaffen.
Das Haus ist noch vollständig eingerichtet mit Möbeln, Unmengen an Kleidern und zahllosen Dingen des täglichen Bedarfs. Auch eine gehörige Menge Unrat befindet sich in den großen Räumen. Es steht im wahrsten Sinne des Wortes voll bis unters Dach, fast so als hätten es die Bewohner nur kurz für einen Einkauf verlassen - doch ist die letzte Bewohnerin vor mehr als 12 Jahren ausgezogen. Für uns ist es vollkommen unvorstellbar, wie hier bis vor „Kurzem“ ein Mensch leben konnte! Ohne Warmwasser, ohne Bad, nur einzelne Räume spartanisch beheizbar und einer Elektrik, die den Namen kaum verdient. Selbst Licht gibt es nur in einzelnen Räumen! Bei den Kindern im Dorf trägt das Haus den Namen „Gruselhaus“, und der Grund für diese Namensgebung ist nicht von der Hand zu weisen … Unsere erste Aufgabe besteht darin, das Haus leer zu räumen, um den Zustand beurteilen zu können und Platz zum Arbeiten zu gewinnen. Schon diese Aufgabe sorgt bei unseren Kindern für große Begeisterung: in jeder Ecke finden sich Dinge, die sie nicht kennen; Spielzeuge aus vergangenen Tagen werden ausprobiert und zusammen rätseln wir über die ehemalige Verwendung mancher Gegenstände, die auch wir als Eltern nicht einordnen können. Für staunende Kinderaugen sorgt z. B. ein Waffeleisen, das ohne Stromkabel auskommt oder ein Kinderschuh, der mit „echten Nägeln“ zusammengehalten wird.
Die Fragen über das Leben von damals sprudeln aus den Kindern heraus mit jeder Beobachtung, die sie machen. Wieso gibt es hier kein Bad? Warum ist die Matratze auf dem Dachboden mit Stroh gefüllt? Wozu wurde dieses oder jenes Werkzeug benutzt? Warum gibt es keine Lichtschalter? Wieso sind die Schlösser an den Türen so groß? Die Aufzählung könnte ich endlos fortsetzen! Für uns ist es schön und durchaus auch heiter, die vielen Fragen zu beantworten. Vor allem aber sind wir beeindruckt davon, welch unglaubliche Beobachtungsgabe die Kinder doch haben – im Alltag zu Hause fällt das viel weniger auf!
Als sich der Winter dem Ende neigt, sind Haus, Scheune und Nebengebäude soweit von allem Unbrauchbaren befreit, dass mit der eigentlichen Instandsetzung begonnen werden kann. Brauchbare Gegenstände und Möbel sind eingelagert, denn die dürfen später wieder ihren angestammten Platz im Haus einnehmen. Die kommenden Monate sollen unserem größten Sorgenkind auf dem Hof gehören, nämlich dem Nebengebäude. Dieses braucht dringend ein neues Dach und so startet unser Vorhaben in Zusammenarbeit mit einer auf Denkmalpflege spezialisierten Zimmerei in Form eines Bauherren-Coachings: Eigenleistung unter fachkundiger Anleitung das macht mächtig Spaß und spart enorm viel Geld! Das alte Dach wird abgedeckt, die Ziegel gereinigt und eingelagert. Der Dachstuhl wird, wo nötig, mit den alten Holzverbindungen erneuert und die maroden Giebelwände im oberen Bereich neu aufgemauert. Auch bei diesen Arbeiten sind die Kinder stets am Geschehen beteiligt, natürlich nur dort, wo es vertretbar ist, und natürlich muss niemand mitarbeiten, der keine Lust dazu hat. Wer aber mag, darf zum Beispiel beim Ausstemmen der Zapfenlöcher helfen oder beim Reinigen der Ziegel mit dem Hochdruckreiniger.
Eine eigene
Kinderwerkbank und kindgerechte Werkzeuge sorgen dafür, dass die Kinder stets
in unserer Nähe werkeln können, und dieses Angebot wird gerne genutzt.
Natürlich sind der Mithilfe Grenzen gesetzt: Wann immer Maschinen ins Spiel
kommen oder Arbeiten in großer Höhe durchgeführt werden, müssen die Kinder
Abstand vom Geschehen nehmen. Auch wenn Maßhaltigkeit eine Rolle spielt oder
schwere Lasten bewegt werden müssen, können die Kinder eben nicht mitwirken.
Aber das ist nicht weiter schlimm, denn auf unserem Grundstück findet sich
immer ein spannendes Plätzchen, welches zum Spielen einlädt. Im Gewölbekeller
wird gerne nach Dinosaurier-Knochen gesucht, für schlechtes Wetter steht ein
eigener Raum als Fußball-Arena zur Verfügung und aus Holzabschnitten lassen
sich kleine Holzmännchen bauen. Dazu noch die unzähligen Möglichkeiten zum
buddeln, graben und matschen …
Auf unserer Baustelle herrscht niemals Langeweile, und die Kreativität der jungen Bauherren kennt keine Grenzen! Dabei geschieht vieles ohne jede Anleitung; die Kinder probieren aus, verändern ihr Werk oder geben den Dingen eine neue Nutzung. So werden alte Regenrohre zu Autorennbahnen, der Bauzaun kurzerhand zum Zelt und zerbrochene Ziegel kann man noch prima zum Malen benutzen. Wenn unsere Kinder dann in Schule oder Kindergarten von ihrem Wochenende erzählen, ernten sie manchmal ungläubige Blicke, denn zu spannend klingen ihre Geschichten – und auch wir als Eltern werden häufig darauf angesprochen: „Ihr Sohn hat im Kindergarten erzählt, dass er dabei hilft, einen eingestürzten Lehmbackofen abzureißen?“, so die etwas ungläubige Frage der Erzieherin. „Ja, genau so ist es …“
Auf uns macht es den
Eindruck, dass die Kinder gerne von ihren außergewöhnlichen Erfahrungen auf der
Baustelle berichten. Wer kann schließlich schon behaupten, dass er auf ein
Baugerüst klettern darf (natürlich nur mit Mama oder Papa) oder mit einem
Hammer den Putz von den Wänden klopfen darf? Wann immer wir Gäste zu Besuch
haben, kümmert sich unsere Tochter (bald 12 Jahre) mit Hingabe um die Führung
und erklärt den Besuchern, was es über unser Haus zu wissen gibt. Sie zeigt,
welche Gebäudeteile angebaut wurden, wo der Dachstuhl durch den Einbau eines
Heukrans gestört wurde und erklärt, weshalb eine Wand in der Küche gemauert ist
statt sie, wie sonst üblich, in Fachwerk-Bauweise auszuführen. Nahezu
fehlerfrei benennt sie den Erwachsenen die wichtigsten Bestandteile einer
Fachwerkwand und informiert über die vorhandenen Schäden. All diese Informationen
haben wir ihr natürlich nicht aktiv beigebracht, sondern sie hat sie
aufgegriffen, gelernt durch Zuhören bei den Gesprächen mit den verschiedensten
Fraktionen - Handwerker, Gutachter, Statiker und natürlich den Mitarbeitern der
Denkmalpflege. Durch Zuhören weiß sie heute mehr über Fachwerkhäuser als manch
Erwachsener, und ihr schönster Lohn dafür sind die verwunderten Blicke der
staunenden Besucher.
Wer nun glaubt, dass dieses Haus für uns vor allem furchtbar viel Arbeit bedeutet, der liegt mit seiner Ansicht zwar nicht völlig falsch – jedoch kann unser Denkmal soviel mehr als uns nur Arbeit zu bescheren! Manchmal sitzen wir wie die Orgelpfeifen auf unserer Gartenmauer und beobachten die Tiere, die in unserem großen Garten zu entdecken sind. Da sind Schnecken, Katzen, die Hühner des Nachbarn und natürlich der Turmfalke, der im Frühjahr in unserer Giebelwand brütet. Am liebsten aber mögen wir die Fledermäuse, welche in der Abenddämmerung unsere Scheune verlassen. Kein Sommerabend vergeht ohne dieses Schauspiel, und mit Stockbrot am Lagerfeuer können wir uns kaum einen schöneren Ort vorstellen. Wenn die Augen dann müde werden, ziehen wir in unseren Wohnwagen um, der uns in der warmen Jahreszeit während der Wochenenden als Unterkunft dient. Oft besuchen uns Freunde, die dann mit ihren Camping-Mobilen anreisen, und so wird unser Grundstück kurzerhand zum Campingplatz, der auch ohne Buchung immer ein freies Plätzchen bietet. Während der Corona-Lockdowns war das ein echter Zugewinn für uns, denn so konnten wir immer verreisen, auch wenn Hotels und Ferienwohnungen geschlossen waren … Landschaftlich ist die Nordpfalz durchaus eine hübsche Gegend mit einer Vielzahl von Freizeitmöglichkeiten, und so ist es leicht, die richtige Mischung aus Arbeit auf der Baustelle und Freizeit im Umland zu finden. Auch wenn das Haus aktuell noch unbewohnbar ist, so hat es lange nicht mehr so viel Leben gesehen wie gerade jetzt!
Die Liste der Vorzüge unseres Denkmals hat bis hierhin schon eine beachtliche Länge erreicht, aber trotzdem sind damit noch nicht alle Themen bedacht. Zwei weitere Aspekte sind es wert darüber zu berichten - gerade in der heutigen Zeit …
Auf unserer Baustelle gibt es weder schnelles Internet noch Fernsehen, Handy und Co. sind hier kaum nutzbar, und so bietet sich für unsere Kinder die selten gewordene Gelegenheit, ungestört der ständigen Verlockung ganz in Ruhe zu spielen. Während zu Hause die Präsenz der elektronischen Lieblinge für ständigen Diskussionsbedarf sorgt, herrscht auf unserer Baustelle eine sonst unbekannte Ruhe. Niemand muss fortlaufend seine Nachrichten checken, die täglich erlaubte Bildschirmzeit verliert mangels guter Internetverbindung jeden Stellenwert, und abends geht man einfach schlafen, wenn man müde ist – und nicht erst wenn die Lieblingsserie zu Ende ist. Mittlerweile lässt unsere Tochter ihr Handy übers Wochenende sogar freiwillig zu Hause liegen - sie braucht es dort nämlich nicht …wie schön!
Ja, und dann gibt es einen letzten Punkt, für den wir als Eltern unserem Denkmal in gewisser Art und Weise sogar ein wenig dankbar sind: Eine Denkmalbaustelle bietet die bestmögliche Kulisse, um den Beteiligten den Gedanken der Nachhaltigkeit näherzubringen. Nirgendwo kann man einfacher begreifen, was Nachhaltigkeit bedeutet, als in diesem Haus; nirgendwo wird es anschaulicher dargestellt. Die Kinder erleben hier, wie totgeglaubte Ziegel auf einmal wieder rot strahlen und hübsch aussehen. Sie sehen, wie aus augenscheinlich maroden Deckenbalken brauchbares Bauholz gewonnen wird und erkennen, dass frühere Generationen dem Hab und Gut eine andere Wertschätzung entgegengebracht haben, als wir es heute tun. Unser liebstes Beispiel dafür ist eine zigfach zerbrochene und ebenso häufig geklebte Zuckerdose, welche bis in unsere Tage ordentlich im Küchenschrank aufbewahrt wurde – und selbstverständlich bewahren auch wir diese Dose auf, die jemand einst so aufwändig repariert hat! Hier haben Dinge einen Wert, die im normalen Alltag längst ihren Nutzen verloren haben. Jedes Stückchen Holz, und sei es noch so klein, wird von den Kindern beäugt, immer mit der Frage im Hinterkopf, ob man es noch irgendwo nutzen kann. Und wenn wir gelegentlich Stücke von geschädigten Fachwerkbalken im Ofen verbrennen, dann hören wir häufig den wehmütig klingenden Satz, dass es bestimmt viel Arbeit war, den Balken herzustellen … Ein Zapfenloch im Ofen bereitet ihnen (wie auch uns) sprichwörtlich Bauchschmerzen - und eigentlich ist das wunderbar so …
Unser Fazit nach zwei Jahren der Denkmalsanierung: Dieses Haus raubt uns nahezu unsere gesamte Freizeit, es raubt uns ebenso alles Geld was nicht im Familienalltag benötigt wird - und trotzdem würden wir in der Not lieber unseren Neubau verkaufen als unser altes Haus in der Nordpfalz …
Christine Kraus, IgB